Der Besuch der alten Dame

Leben von der Arbeitslosenunterstützung. Der alltägliche Besuch des Pfändungsbeamten. Einwohner, die auf Züge starren.

Die Kleinstadt Güllen ist heruntergewirtschaftet, das Kulturgut wertlos, die Bewohner verzweifelt, die florierende Schönheit der Stadt längst vergessen.

Doch Rettung ist in Sicht! Gespannt und voller Hoffnung erwarten die Güllener den Besuch der Milliardärin Claire Zachanassian. Aufgewachsen in Güllen hat sie damals noch als Klara Wäscher die Stadt verlassen. Nun kehrt sie zurück –  als Milliardärin – und berühmte Wohltäterin zugleich. Da wird die Dame doch etwas Mitleid mit ihrem Heimatstädtchen haben, das als einziger Ort in der Region von der Krise erfasst zu sein scheint.

Besonders Alfred Ill, Klaras ehemalige Jugendliebe, soll dabei helfen, die Dame zur Großzügigkeit zu überreden. Alte Liebe rostet schließlich nicht.

 

So staunen die Güllener nicht schlecht, als Claire ihnen schließlich den wahren Grund ihres Besuches offenbart. Sie ist zwar tatsächlich bereit, das Städtchen aus der Misere zu ziehen. Eine Milliarde will sie investieren – und doch verlangt sie für ihr großzügiges Angebot einen hohen Preis …

 

Güllen für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche.

 

Denn für ihre Finanzspritze fordert die alte Dame Gerechtigkeit. Vor vielen Jahren stritt Alfred Ill eine Vaterschaftsklage vor Gericht ab, bestach sogar seine Freunde, damit diese für ihn und damit gegen Klara aussagen. Diese wurde hochschwanger –  und von der ganzen Stadt verspottet – aus der Heimat vertrieben. Mit nichts als Kleidung am Leib musste Klara sich als Prostituierte durchschlagen, um zu überleben. Zu ihrem Glück fand der alte Milliardär Zachanassian Gefallen an der jungen Frau – und heiratete sie.

Nun soll Ill dafür bezahlen, dass er sie einst verleugnete und sich so aus der Verantwortung stahl.

Die Milliarde soll der Stadt nur zukommen, wenn jemand Alfred Ill das Leben nimmt.

 

Entrüstet lehnen die Güllener das Angebot ab. Wenigstens die Menschlichkeit sei in Güllen noch nicht verkommen.

Schon bald jedoch schlägt diese Entrüstung in zunehmende Gelassenheit um und es zeigt sich eine erhöhte Konsumbereitschaft der Einwohner…

 

„Aber die Gerechtigkeit kann man doch nicht kaufen!“ – „Man kann alles kaufen.“

 

Friedrich Dürrenmatt zeichnet in seinem im Jahr 1956 erschienenen Werk ein trauriges Bild moralischer Werte, die dem Kapitaldurst weichen müssen. Durch absurde, geradezu groteske Symbolik verbildlicht Dürrenmatt das Dilemma der Güllener und ihre doppelmoralischen Anstrengungen, sich aus der Not zu befreien. Ein Thema, was auch noch (und vielleicht gerade besonders) heute nicht an Aktualität und Vergleichbarkeit zu verlieren scheint.

 

Von Uta Koschel auf wunderbar schlichte und ehrliche Weise inszeniert, ist das Stück im Theater Heilbronn eine lohnende Abendgestaltung.

Die Interpretation des Stückes verhält sich hier sehr nah am Text und orientiert sich ohne viel „Drumherum“ an der kapitalismuskritischen Hauptaussage der tragischen Komödie. Diese Direktheit wird vor allem dadurch hervorgehoben, dass gezielt auf mehrere Hilfsfiguren wie z.B. den Maler oder den Arzt verzichtet wurde. Dadurch wird gleichzeitig den institutionellen Hauptfiguren Lehrer, Bürgermeister, Polizist und Pfarrer mehr Bedeutung zugesprochen.

Vom Einsatz verschiedener, im Originaltext aufgeführten Requisiten wird ebenfalls materiell abgesehen. Und dennoch sind sie vorhanden. So wird beispielsweise der fehlende Tisch beim Abendessen zu Ehren von Claire, sowie das komplette Auto inklusive Spritztour von Karl, Ills Sohn, pantomimisch dargestellt.

Ebenso kommt das Stück im Theater Heilbronn gut ohne prächtiges Bühnenbild aus. Denn neben der phantastischen schauspielerischen Leistung der Mitwirkenden, betont vor allem der eindrucksvolle Einsatz von Licht und Ton die Dramatik der Handlung.

 

Etwas ungewöhnlich, allerdings sehr treffend: Musikalisch wird die Inszenierung durch die außerordentliche Leistung eines Akkordeonorchesters unterstützt.

Insgesamt ist die Inszenierung ein Abendtipp für alle, die es noch einmal wissen möchten. Vielleicht erinnert sich der ein oder andere ja noch leidend an die Textinterpretation der alten Dame im Abitur. In der Darstellung am Heilbronner Theater wird dem Zuschauer hingegen nichts „aufgezwungen“, sondern der eigenen Fantasie bei der Deutung der Geschichte noch Raum gelassen.  Wir waren für euch da und können es nur empfehlen!

 

Die tragische Komödie ist in Heilbronn noch bis zum 06.01.2017 zu sehen.

 

 

Text: Mira Reichenbach

Fotos: Thomas Braun, © Theater Heilbronn

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