Schaut hin, nicht weg!

Mal eben in die Türkei reisen klingt so wahrscheinlich nach einem entspannten All-Inclusive-Urlaub. Alles andere als das war allerdings Katrina Kimmerle’s Reise in die türkische Stadt Gaziantep, 50 km von der syrischen Grenze und dem IS entfernt. Wenn man Katrina sieht, traut man ihr dieses Abenteuer so gar nicht zu: Diese sympathische, 22-jährige Brünette, die an unserer Hochschule IBIS studiert, soll so nah am IS gewesen sein? Wieso?! „Vielleicht hat sie ja arabische oder türkische Wurzeln“, dachte ich mir vor unserem Interview. Doch weit gefehlt, ihre Eltern sind deutsch und amerikanisch, also schon ein Stück vom Orient entfernt.

Also Katrina, wie bist du auf diese Idee gekommen, was war deine Motivation zu dieser Reise?

Die Meisten von uns würden sich momentan wahrscheinlich niemals in diese Region trauen. Ich wollte die Flüchtlingssituation in der Türkei einfach mit eigenen Augen sehen, um sie besser einschätzen zu können und um den Flüchtlingen vor Ort zu helfen. Anschließend wollte ich hier die Situation vermitteln. Ich finde, die Leute müssen viel mehr hin und nicht immer so viel wegschauen. Für Gaziantep habe ich mich dann entschieden, weil es nah genug am IS dran ist, dass man etwas davon mitbekommt, aber gleichzeitig noch weit genug weg, sodass man einigermaßen sicher ist. Obwohl ich dieses Vorhaben schon neun Monate lang im Kopf hatte, war es letzten Endes doch ziemlich spontan: An einem Sonntag im Mai 2015 buchte ich meine Flüge und das Hotel und am Donnerstag der gleichen Woche begann meine Reise.

Und was hat dein Umfeld dazu gesagt; deine Eltern, deine Freunde?

Mein Vater hat meine Entscheidung akzeptiert und hatte Respekt dafür. Ich glaube, er fand es gut, dass ich mir selbst ein Bild von der Situation machen wollte. Trotzdem hatte er natürlich auch Angst um mich und ich musste ihm von meinem kompletten Plan erzählen. Meine Mama fand das Ganze glaube ich nicht so gut, aber sie wusste auch, dass sie mir da nicht reinreden kann und hat letzten Endes akzeptiert, dass ich gehe und gehofft, dass nichts passiert. Bei meinen Freunden war es unterschiedlich. Man könnte sagen, dass meine ausländischen Freunde meine Entscheidung eher verstanden und sie sogar ein bisschen bewunderten, während meine deutschen Freunde vorsichtiger und kritischer waren. Von ihnen kam auch öfter mal ein „Willst du das wirklich machen?“.

Wie kann man sich deine Reise vorstellen, ist dabei alles glattgegangen?

Ich bin von Stuttgart über Istanbul nach Gaziantep geflogen und da hat auch erst mal alles funktioniert. Zum Glück saß im Flugzeug zufällig die ganze Zeit über ein Deutschtürke aus Stuttgart neben mir, der mich dann in Gaziantep auch zum Bus gebracht hat. Das hat mir echt geholfen, schließlich spreche ich gar kein Türkisch und die meisten Menschen dort verstehen aber weder Englisch noch Arabisch, ich musste mich also mit Händen und Füßen durchschlagen. Naja, die Busfahrt war dann direkt ein ziemliches Abenteuer: Der Typ hat dem Busfahrer auf Türkisch erklärt, dass er mir an der Endstation noch ein Taxi bis zum Hotel rufen soll. Theoretisch war das letzte Stück zwar nicht mehr weit, aber man soll nachts nicht mehr allein draußen sein, da der IS nachts Leute entführt. An der Endstation hat der Busfahrer dann alle rausgeschmissen und etwas zu einem Kollegen gesagt. Der Kollege ist zum Taxistand gegangen, aber nicht, um mir eins zu rufen, sondern um alle Taxis wegzuschicken. Ich hatte keine Ahnung, was da vor sich geht, ich saß nur da und dachte: Okay, das ist jetzt komisch. Anschließend kam der Kollege des Busfahrers zurück und bedeutete mir, mein Gepäck in den Kofferraum eines anderen Busses zu laden. Ich dachte, dass er mich jetzt zum Hotel fahren würde. Stattdessen fuhr er aber auf einen komischen Parkplatz, auf dem absolut nichts los war und meinte dann, dass ich im Bus schlafen solle. Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass das Hotel off en ist, aber er meinte: „Geh nach hinten und schlaf!“. Jetzt hatte ich zur Wahl: Ich bin im Bus, mehr oder weniger eingesperrt; ich weiß nicht, ob er mich rausgelassen hätte. Aber wie gesagt soll man wegen der IS–Entführungen nachts nichts draußen sein. Das heißt: Bin ich im Bus eingesperrt oder möchte ich da draußen sein? Ich dachte mir, dass im Bus bleiben für den Moment auf jeden Fall sicherer ist. Also habe ich mein Handyinternet angemacht, gehofft, dass mein Guthaben ausreicht und einem türkischen Kumpel in Deutschland geschrieben und ihm meinen Standort geschickt. Meine Freunde haben mir dann von Deutschland aus ein Taxi bestellt. Auf einmal kam der Busfahrer nach hinten und hat versucht, mich anzufassen. Ich habe mich hinter meinem Rucksack versteckt, um weniger Angriffsfläche zu bieten. Irgendwann ließ er locker, ging zurück nach vorn und fuhr weiter, das hieß, der Standort, den ich meinen Freunden für das Taxi geschickt hatte, galt nicht mehr. Also schrieb ich meinem Kumpel erneut und schickte ihm meinen Standort. Ich bin so froh, dass mein Guthaben ausgereicht hat. Plötzlich hält der Busfahrer erneut an, kommt nach hinten und will mein Handy sehen. In dem Moment sehe ich aber draußen das Taxi, das meine Freunde mir bestellt haben. Das habe ich dem Busfahrer auf Englisch gesagt. Er hat mich dann zum Glück rausgelassen und sogar meinen Koffer geholt. Und dann, ja dann ist das Taxi weggefahren, es hatte alles zu lang gedauert. Glücklicherweise kam gerade ein anderes Taxi, sodass ich das nehmen konnte.

Wie sah dann deine Woche in Gaziantep aus, was hast du so gemacht?

Die ersten zwei Tage habe ich das Zentrum von Gaziantep erkundet. Natürlich ist alles etwas heruntergekommener, sie hält nicht ganz mit westlichen Ansprüchen mit, aber es ist trotzdem eine große Stadt, mit 1,8 Millionen Einwohnern, ganz normalen Läden und Restaurants etc. Dann habe ich mir gesagt: „Hey, was mache ich hier eigentlich?! Ich bin nicht hierher gekommen, um die Läden zu sehen. Am nächsten Tag laufe ich so lange in eine Richtung, bis ich in eine schlechte Gegend komme, wo Flüchtlinge leben.“ Das habe ich dann auch getan. Ich bin bis an den Stadtrand gelaufen und es war, ich weiß nicht, ich war da und… da gibt’s keine Worte. Es war einfach nicht schön. Die Leute hatten auch gar nichts zu tun, die saßen einfach draußen, vor ihren Häusern – wenn man es überhaupt Häuser nennen kann. Die „Häuser“ waren einfach alt und richtig heruntergekommen, teilweise waren die Mauern kaputt und da einige Türen off en standen, konnte ich auch das Innere sehen: Das war einfach nur ein Zimmer, Wände, manchmal lag vielleicht noch mal eine Matratze drin, aber da war nichts. Die hatten nichts, da war nichts. Was ich auch voll krass finde ist, dass die Leute dort im Müll gesucht haben. Ich meine, in einer Gegend, wo die Menschen sowieso schon nichts haben, was sollen die denn da im Müll noch finden?

Und bist du dort nicht aufgefallen, so als Europäerin?

Nein, nicht wirklich. Ich hatte ein langes schwarzes Kleid an und ein Kopftuch auf, um in Gaziantep nicht aufzufallen. Das einzige, was vielleicht ein bisschen komisch war, ist, dass ich als Mädchen dort alleine „rumgestreunt“ bin.

Was genau hast du dann gemacht, wie hast du den Flüchtlingen geholfen?

Ich hatte Reis dabei und jede Menge alte Kleidung, die ich verteilt habe. Allerdings habe ich viel lieber Geld verteilt. Ich glaube, die fangen auch wirklich was Gescheites mit dem Geld an. Einmal habe ich zwei jugendlichen Jungs Geld gegeben und mich auch ein bisschen mit ihnen auf Arabisch unterhalten. Mein Arabisch ist allerdings nicht besonders gut, sodass es nur zum Small Talk gereicht hat. Jedenfalls kamen die beiden aus Aleppo in Syrien, waren gerade dabei, Müll aufzusammeln und haben sich sehr über das Geld gefreut.

Wie ist das Verhältnis zwischen den Türken und den syrischen Flüchtlingen in Gaziantep?

Nicht besonders gut. Also die Türken sind nicht gerade gut auf die Syrer zu sprechen, weswegen ich auch immer Misstrauen erregt habe und für eine Syrerin gehalten wurde, wenn ich versucht habe, mich dort auf Arabisch durchzuschlagen. Außerdem habe ich gehört, dass einige Türken wohl nachts mit Messern in der Stadt rumlaufen würden und auf die Syrer losgehen, wenn ihnen Flüchtlinge über den Weg laufen. Ich denke aber nicht, dass dieses Verhalten daran liegt, dass die Einheimischen den Flüchtlingen nicht helfen möchten. Ich glaube, sie können deren Situation und ihre Beweggründe, Syrien zu verlassen, schon nachvollziehen, aber sie sind mit der gesamten Angelegenheit einfach vollkommen überfordert. Außerdem erlebt die Stadt durch die ganzen Flüchtlinge einen wirtschaftlichen Aufschwung, also werden die Mieten nach oben getrieben und alles wird teurer, was natürlich auch nicht gerade rosige Voraussetzungen für ein gutes Verhältnis zwischen Türken und den Flüchtlingen sind. Gaziantep gehört momentan sogar zu den zehn Städten der Welt, die sich wirtschaftlich am schnellsten entwickeln. Obwohl die Flüchtlinge selbst nicht viel Geld haben, was sie in die Wirtschaft pumpen könnten, bieten sie natürliche billige Arbeitskraft, wodurch es zu diesem Aufschwung kommt.

Kannst du uns die Situation der Menschen dort noch besser beschreiben? Konntest du vielleicht noch mit weiteren Flüchtlingen sprechen?

Über die türkische Hilfsorganisation ASAM habe ich eine Frau kennengelernt, die dort als Arabischlehrerin gearbeitet hat, um z. B. gerade kleinen syrischen Kindern die Schrift und das Lesen beizubringen. Sie hat mich dann zu sich und ihrer Familie nach Hause eingeladen. Mit ihr habe ich auch jetzt noch Kontakt, die Situation dort ist aber wirklich nicht gut, die Familie lebt seit zwei Jahren in der Türkei in einem Raum, in dem gerade mal eine Schlafgelegenheit für ihre Tochter und ein Sofa sind. Küchengeräte stehen draußen und ein Bad habe ich nie gesehen. Als ich dort zu Besuch war, habe ich mich einfach nur schlecht gefühlt und an all die Dinge gedacht, die unbenutzt bei mir zu Hause stehen und die hier gebraucht werden könnten.

Du hast mir ja erzählt, dass du mit einer Mitarbeiterin der Welthungerhilfe gesprochen hast. Wie sieht deren Hilfe für die Flüchtlinge dort aus, was wird konkret getan?

Die Welthungerhilfe macht z. B. viele Hausbesuche oder geht in Flüchtlingslager in der Türkei. Außerdem werden Hilfsgüter über die Grenze nach Syrien geschickt oder medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Trotzdem können solche Organisationen natürlich nur versuchen, die Situation in den Flüchtlingslagern zu verbessern, aber die Flüchtlinge insgesamt aus den Lagern rauszuholen oder deren Situation wirklich erheblich lebenswerter zu machen, liegt nicht in deren Macht. So was muss von den Regierungen kommen.

Noch mal zum IS, hattest du selbst in der Türkei, 50 km von deren eigentlichem Gebiet entfernt, Berührungspunkte mit dem IS?

Ja, da bin ich mir sicher. Also man nimmt es zwar nicht unbedingt wahr, aber mir wurde z. B. auch gesagt, dass sich mindestens eine Person, die mit mir im Flugzeug geflogen ist, dem IS angeschlossen hat. Gaziantep ist nämlich einer der Knotenpunkte, über den der IS seine Leute nach Syrien holt.

Wurdest du dann am Flughafen auch besonders untersucht?

Mein Gepäck wurde zwar auf Sprengstoff kontrolliert, aber befragt, wieso ich in diese Gegend möchte und was ich dort will, wurde ich nicht; bis heute nicht. Ich glaube, wenn man sich dem IS anschließen möchte, ist es nicht so schwer. In Gaziantep selbst gibt es sogar ein Recruitment Center des IS, sowie zwei Hilfsorganisationen, die den IS unterstützen. Und das ist bekannt, das findet man im Internet.

Was ist jetzt dein weiteres Vorgehen, was hast du so geplant, was möchtest du mit deiner Erfahrung erreichen?

Ich habe einen Blog (rice4syria-blog.tumblr.com) über meine Erlebnisse in der Türkei geschrieben, womit ich den Menschen hier einfach die Situation dort ein wenig näherbringen möchte. Außerdem will ich auch auf jeden Fall noch mal zurück nach Gaziantep. Zum einen möchte ich direkt an die Grenze, um zu sehen, wie es an der Grenze ist und wie die Hilfsgütertransporte funktionieren. Jetzt weiß ich auch, was die Flüchtlinge wirklich brauchen, was man den Menschen geben kann und wem man es geben kann. Ich bin jetzt einfach besser informiert und kann gezielter helfen.

 

Die Flüchtlingsfamilie, mit der sich Katrina in der Türkei getroffen hat, ist mittlerweile in Deutschland angekommen. Lest hier die Geschichte ihrer Flucht.

 Die Familie ist mit dem Boot zusammen mit anderen von der Türkei nach Griechenland zur Insel Kos gereist. Von dort aus mussten sie durch Gebirge wandern. Während dieser Wanderung ist nach jedem Berg dem Nächsten das Wasser ausgegangen, die Sonne war sehr stark, alle waren komplett übermüdet und der Stress der Flucht hat ihnen extrem zugesetzt. Auf dem Weg durch das Gebirge ist die Tante verdurstet und die dreiköpfige Familie (Mann, Frau und dreijährige Tochter) hat Medizin getrunken, um genügend Flüssigkeit zum Überleben aufnehmen zu können. Sie sind über Serbien nach Ungarn gewandert und in Ungarn hatten sie nur noch 5 €. Dort konnten sie nur noch auf Pappe schlafen, damit sie wenigstens nicht auf der blanken Straße übernachten mussten. Nach ein paar Tagen ging es von Ungarn aus in einer Nachtaktion nach Österreich. Für sie hat sich der Hauptbahnhof in Wien nach Serbien und Ungarn wie ein 5–Sterne–Hotel angefühlt. Zwei Nächte später kamen sie dann nach München, wo sie von den vielen freiwilligen Helfern und Schildern mit „Welcome to Munich“ willkommen geheißen wurden. Wenige Stunden später wurden sie in einen Zug nach Burbach gesetzt, wo sie für die Nacht in eine Erstaufnahmestelle gebracht wurden. Am nächsten Tag ging es dann weiter in ein Flüchtlingsheim nach Olpe. Die Unterkunft dort ist eine umfunktionierte Jugendherberge. Die Familie hat ein eigenes kleines Zwei-Bett-Zimmer mit Bad, womit sie nach ihrer beschwerlichen Flucht und der Zeit in der Türkei endlich mal etwas Glück hatten.

 

Interview: Yamina Ouldali, Fotos: Katrina Kimmerle

 

Dieser Beitrag erschien in Ausgabe Nr. 2 vom 19.11.2015

 

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