Studieren – Gescheit weil Gescheitert

Wenn wir heute auf so manch dunklen Teil des Mittelalters zurückblicken, können wir nur mit dem Kopf schütteln vor so viel durch Aberglauben gelenktes Verhalten. So wurde Krankheit beispielsweise als Strafe Gottes angesehen. Also als gerecht. Das führte dazu, dass man Kranke sich selbst überließ und eine äußerst seltsame Auffassung von Medizin an den Tag legte. Zum Glück haben wir das lange überwunden. Mir scheint aber, was die Krankheit fürs Mittelalter war, ist das Scheitern fürs Heute.

 

Früher (und ja ich weiß, dass es immer komisch klingt, wenn ein Anfang-zwanzig-Jähriger „früher“ sagt) war ich eher schüchtern. Ich wollte es jedem Recht machen, möglichst nicht auffallen und vor allem eines nicht: Scheitern.
Früher (jaja, klingt immer noch komisch, ich weiß) verfolgte mich stets dieses Unbehagen, dieser überwältigende Berg an Verantwortung. Zum Beispiel in der Mathe-Klausur. Immer war ich so darauf fixiert, ja nicht an diesem Zahlenberg zu scheitern. Ich warf jegliche Gelassenheit über Bord und machte der blinden Panik Platz. Was zwangsläufig zu meinem Scheitern führte.
Scheitern wird heute wie selbstverständlich als eine Schande angesehen. Diese Sicht ist dabei durchaus kulturell bedingt:
Im antiken Griechenland zum Beispiel spielten tragische Helden, welche wieder und wieder um ihren Erfolg gebracht wurden, eine große Rolle in Geschichten und Mythen. Diese wurden nicht etwa verspottet, sondern häufig als ehrenvolles Vorbild genommen. Die Helden waren sich selbst treu geblieben. Denken wir doch nur einmal an die 300 Spartaner, welche bei der aussichtslosen Verteidigung ihres Landes zwar erfolglos, aber dennoch tapfer kämpften. Diese Wahrnehmung teilten die Römer nicht. Bevor ein Befehlshaber von einem verlorenen Feldzug
heimkehrte, nahm er sich besser das Leben. So wirkte er der Schande des Scheiterns entgegen, die er über seine Sippe gebracht hatte. Und so verlor das Römische Reich viele große zukünftige Feldherren. Denn: Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.

 

Auch kein Leonardo Da Vinci. Bei der Recherche zu dieser Kolumne fiel mir durchweg eines auf: Wir haben ein ungemein verzerrtes Bild von den großen Persönlichkeiten der Geschichte. Wir kennen ihre unglaublichen Erfolge und ihre Talente, die sie dorthin geführt haben. Wir wissen aber nicht um ihre Misserfolge und um Jahre ihres Lebens, in denen einfach nichts voranging. Oder wusstest du, dass Da Vinci sich als junger Künstler so sehr überschätzte, dass er häufig Aufträge nicht fertigstellen konnte? Dies führte bald dazu, dass ihn niemand mehr so recht engagieren wollte. Mit 30 zeichnete Leonardo also Steckbriefe und Totenbilder, vor allem von hingerichteten Verbrechern, um sich über Wasser zu halten. Viele Jahre später, er war bereits 46, gelang ihm sein erstes Meisterwerk: Das Abendmahl. Bis dorthin war es aber ein mühsamer Überlebenskampf, bei dem das eine oder andere Projekt grandios scheiterte.
Oder wusstest du, dass der 30-jährige Harrison Ford sich bereits zehn Jahre lang erfolglos als Schauspieler versuchte und schreinerte, um sich über Wasser zu halten?
Gut Ding will eben Weile haben. Und auch auf die Gefahr hin, dass ich nun den ein oder anderen enttäuschen werde: Auch mit einem Bachelor können wir noch nicht die Welt erklären. Und mit dem Master stehen wir womöglich immer noch ganz am Anfang.

 

Scheitern ist weder eine Schande, noch ist Erfolglosigkeit dasselbe wie Unfähigkeit.

 

Auch wenn ihr nicht vorhabt, der nächste Da Vinci oder Ford zu werden: Sich das ständig vor Augen zu halten, ist ungemein hilfreich. Auch für meine Mathe-Klausuren. Als es nämlich schließlich aufs Abitur zuging, setzte ich mir ein erreichbares Ziel, lernte entspannt und ging in die Klausur in dem klaren Bewusstsein, dass ich schon so ziemlich jeden Fehler gemacht hatte, den man nur machen konnte. Und siehe da: Das Fach, in dem ich bisher nur Vierer  eingefahren hatte, wurde eines der Stärksten in meinem Studium.
Daher habe ich für mein Studium einen vielleicht etwas schrägen Ansatz: Ich habe mir vorgenommen, so viele Fehler wie möglich zu machen. Ich möchte sie erkennen und vermeiden können, wenn es einmal um mehr geht als um eine Note. Ich möchte dazulernen. Und aus Fehlern lernt man ja bekanntermaßen am besten. Das beschert einem die womöglich wichtigsten Lektionen des Studiums.
Ich möchte euch nicht ermutigen, nun nur das Nötigste zu tun, weil ihr ja ohnehin noch Zeit habt. Im Gegenteil: Ich möchte euch ermutigen, hinauszugehen und aktiv Fehler zu machen, um aus ihnen zu lernen. Das heißt nicht: „Stellt euch dumm!“ sondern: „Traut euch was!“
Traut euch etwas anzupacken, neue Wege zu beschreiten, gegen den Strom zu schwimmen. Lasst euch nicht davon irritieren, wenn ihr scheitert. Aber lernt aus euren Fehlern.
Oder um es mit geliehenen Worten zu sagen:
„Und warum fallen wir, Bruce? Damit wir lernen können, uns wieder aufzurappeln.“ – Batman Begins

 

Jonas Speiser

Profi -Scheiterer und Hobby-Philosoph

 

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Bild: János Adelsberger

Dieser Beitrag erschien in Ausgabe Nr. 4 vom 23.04.2016

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